65 DAS VERDAMMTE KLEINE ”e”

Abschied von Harald.

An meiner Wand hängt ein neuer E-Bass. Nein. Er ist nicht neu – er gehört meinem Freund Harald Kellermann. Nein. Er gehörte Harald. Ich schaue auf den E-Bass, es ist ein sehr schöner Fender Jazz Bass, aber ich sehe nur dieses kleine ”e”, das aus ”gehört” einfach ”gehörte” gemacht hat. Denn am 10. Juni 2018 ist Harald nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Der E-Bass ist jetzt hier bei mir, weil Harald ihn mir vermacht hat. Und ich wünschte, ich könnte ihn wieder eintauschen – gegen dieses verdammte kleine ”e”. Und meinen Freund Harald.

Es fällt mir immer noch schwer, Worte zu finden, die den traurigen Geschehnissen der letzten Monate gerecht werden. Doch seit Haralds Bass hier an meiner Wand hängt – dahinter ein Foto, auf dem Harald ihn spielt –, fühle ich das starke Bedürfnis, mich noch einmal bei ihm dafür zu bedanken. Für viele andere Dinge hatte ich mich schon bei ihm bedankt – in einem langen Brief, geschrieben nach der endgültigen Diagnose, als es keine Grundlage mehr für die Hoffnung auf seine Genesung gab. Aber ich habe erst nach Haralds Tod erfahren, dass ich seinen Bass bekommen sollte. Eine passendere oder bedeutsamere materielle Erinnerung an ihn könnte es für mich kaum geben. Deswegen ist es mir zwar noch lange keine Freude, den Bass hier bei mir zu haben – aber eine sehr große Ehre.

Harald Kellermann – gibt es einen besseren Nachnamen für einen Bassisten? – war einer meiner besten und ältesten Freunde. Kennen gelernt haben wir uns vor über 25 Jahren. Eine lange Zeit, möchte man meinen. Dass die Zeit am Ende so schnell so knapp wurde, ist für mich immer noch schwer zu begreifen. Und dass jetzt eben keine weiteren 25, 35 oder wie viele Jahre auch immer noch dazu kommen werden. Also ist und bleibt jetzt alles, was mit Harald zu tun hat, in der Vergangenheit.

Dieses verdammte kleine ”e” – man muss es nur an so schöne Wörter wie ”lebt”, ”wohnt”, ”spielt”, ”lacht”, ”erzählt” oder ”freut” anfügen, und schon ist alles vorbei, was gerade noch Gegenwart war. Deshalb möchte ich die folgenden kurzen Episoden unserer langen Freundschaft anders aufschreiben. Im Präsenz. Um sie mir ein letztes Mal zu vergegenwärtigen.

Also los – eins, zwei, drei, vier …

INTRO

Es ist April oder Mai 1993, Anfang des Sommersemesters in Münster, meinem zweiten Semester. In der ”na dann”, dem lokalen wöchentlichen Anzeigenblatt, finde ich eine Anzeige: ”Akustik-Gitarrenduopartner gesucht.” Ich rufe bei der angegebenen Telefonnummer an. „Kellermann“, meldet sich eine kernige Stimme. Harald und ich vereinbaren einen Termin. Ein paar Tage später steht er mit Gitarrenkoffer in meinem Studentenzimmer in Gievenbeck. Wir spielen uns gegenseitig ein paar Sachen vor. Instrumentalstücke, auch eigene Kompositionen. Dann spielen wir noch gemeinsam irgendwas, einen einfachen Blues. Wir merken: Das könnte wohl zusammenpassen.

1. STROPHE – 1993 bis 1996

Ab dem Frühling 1993 treffen Harald und ich uns regelmäßig einmal in der Woche zum Gitarrespielen – abwechselnd bei ihm in seinem WG-Zimmer in der Schillerstraße und bei mir in meinem Zimmer in Gievenbeck. Wir bauen ein schönes Programm auf, bestellen uns das ”Real Book” und geben uns der Illusion hin, dass wir eines Tages echte Jazzer werden.

Einmal, irgendwann im Sommer, gehen wir zur Tankstelle bei ihm um die Ecke, kaufen ein paar Dosen Bier – und Harald zeigt mir den ”Hafen” von Münster (als gebürtiger Wilhelmshavener muss ich das in Anführungszeichen schreiben). Wir setzen uns mit den Gitarren auf die Kaimauer, schieben vorher die Glasscherben beiseite und beäugen misstrauisch die komischen Gestalten ein paar Meter weiter. Und machen Musik, die in der Dunkelheit des städteplanerisch noch vollkommen unerschlossenen ”Kreativkais” stimmungsvoll übers Wasser schwebt.

Am Kanal sitzen wir auch einmal, auf einer Wiese, und als wir ein paar unserer Stücke gespielt haben, bekommen wir von einigen unserer unfreiwilligen Zuhörer Obst geschenkt. Ansonsten treten wir nie öffentlich auf – Harald hat starkes Lampenfieber, um es vorsichtig auszudrücken. Er will und kann nicht vor Publikum spielen. Ich komme damit klar. Ich habe ja noch meine Band in Wilhelmshaven – und das Ausarbeiten und Spielen unserer Stücke macht einfach Spaß. Und Harald zu treffen und mit ihm zu reden sowieso.

Als ich mich im Sommer 1995 für ein Jahr in die USA verabschiede, um dort zu studieren, gebe ich meine Gitarre in Haralds Obhut. Er pflegt sie gut, macht aber in seinen ersten Briefen an mich in die USA Scherze über diesen kleinen ”Zimmerbrand” bei ihm. Und als ich 1996 wieder zurück in Münster bin und ihn in seiner neuen WG in der Querstraße besuche, da umarmt er mich zur Begrüßung.

2. STROPHE – 1997 bis 2002

Anfang 1997 ziehe ich mit Hannes in eine 2er-WG im Zentrum Nord. Seltsame Wohngegend, seltsames Haus, aber Harald sagt gleich beim ersten Besuch: Wenn hier mal was frei wird, sag Bescheid. Das tue ich ungefähr ein Jahr später. Und plötzlich sind wir Nachbarn und wohnen nicht nur im gleichen Haus, sondern sogar direkt Tür an Tür.

Hannes kommentiert irgendwann amüsiert: Seit ihr Nachbarn seid, spielt ihr gar nicht mehr zusammen Gitarre. Stimmt, das passiert nur noch selten. Heute erkläre ich mir das so: Wir sind zu diesem Zeitpunkt schon so gute Freunde, dass wir die Gitarren nicht mehr als Ausrede brauchen, um Zeit miteinander zu verbringen.

Ich mache im Sommer 1999 Examen und bleibe in Münster, weil ich hier überraschenderweise einen guten Job finde. Hannes zieht nach seinem Examen Anfang 2000 nach Köln und ich übernehme die Wohnung. Harald und ich bleiben Nachbarn und sind es mehr denn je. Er hilft mir, meinen riesigen neuen Kleiderschrank aufzubauen – wir brauchen dreieinhalb Stunden. Handwerklich ist er fast genauso unbegabt wie ich.

Wir sind viel gemeinsam unterwegs – vor allem am Hafen, der inzwischen ”Kreativkai” heißt und uns mit dem Hot Jazz Club eine Menge zu bieten hat. Harald steigt in eine Band ein – als Bassist. Ich berate und begleite ihn beim Kauf seiner ersten Bässe, leihe ihm meinen Verstärker für Konzerte. Er schafft es mittlerweile, öffentlich auf einer Bühne zu stehen und Musik zu machen.

So ziemlich jeden Samstagnachmittag sitzen wir bei ihm oder mir vorm Fernseher, trinken Tee und schauen Weltraumserien wie ”Star Trek: Voyager” und ”Deep Space Nine”. Später am Abend gibt’s dann Bier, oft im ”Scott’s View”, und noch später treffen wir uns mit Haralds großem, buntem Freundeskreis irgendwo, zum Beispiel im Cuba zur Ü30-Party. Irgendwann zwischen 1 und 3 Uhr morgens fahren wir zurück ins Zentrum Nord. Manchmal essen wir noch einen Döner hinterm Bahnhof. Einmal will uns die Polizei anhalten und wir flüchten mit unseren Rädern wie wild um irgendwelche Wohngebietsecken, bis wir kaum noch wissen, wo wir sind. Und einmal, im tiefsten Winter, legen wir uns stockbetrunken an der Kanalstraße in den kalten Schnee und schauen in den klaren Himmel. Am nächsten Tag weist Harald darauf hin, wie bescheuert und grenzwertig das war: Wir hätten einschlafen und sterben können.

Wir unternehmen viel gemeinsam – fahren zum Beispiel nach Enschede, machen Radtouren oder gehen einfach nur im Nordpark spazieren. Als Harald hört, dass ich Wurste- und Leberbrot nicht kenne, kocht er mir das westfälische Traditionsgericht – mit Himmel & Erde. Immer, wenn ich im Winter Grünkohl von meiner Oma aus Wilhelmshaven bekomme, lade ich ihn zum Essen ein. Denn Harald liebt friesischen Grünkohl. Und als ich Anfang 2000 an einem Freitagabend mit so hohem Fieber zu Hause flach liege, dass ich den ärztlichen Notdienst rufe, fährt er nach dessen Besuch mit dem Rezept zur Nachtdienst-Apotheke und holt mir die Medikamente.

Wir sind manchmal unterschiedlicher Meinung über irgendwelche Sachen, Musik zum Beispiel, aber an einen echten Streit kann ich mich nicht erinnern. Harald ist ein Freund klarer Worte – die er meist mit der Formel ”Aber Hand aufs Herz: …” einleitet. Seine freundschaftliche Ehrlichkeit ist mir mindestens einmal eine große Hilfe: Ende 2001 bei irgendeinem Fest am Hafen stehen wir im Hot Jazz Club. Ich warte auf die Frau, in die ich unglücklich verliebt bin, und die gesagt hatte, dass sie auch hierhin kommt. Aber sie kommt nicht. Und ich warte. Und warte. Bis sich irgendwann Harald zu mir umdreht, mir in die Augen schaut, seine Hand auf meine Schulter legt und sagt: ”Tim, wenn sie irgendein Interesse an dir hätte, dann wäre sie jetzt schon hier.” Er hat recht. Und ich brauche diese klare Ansage, um es zu kapieren. Ich glaube, ohne Harald würde ich da immer noch stehen und warten.

Zwischenspiel – 2002 bis 2004

Als ich Ende 2002 nach Hamburg ziehe, um dort meinen neuen Job anzutreten, fährt Harald mich nach der Wohnungsübergabe an meinen Nachmieter zum Bahnhof. Das wolle er sich nicht nehmen lassen, sagt er. Da ich inzwischen Claudia gefunden habe und wir die Wochenenden abwechselnd in Hamburg und Münster verbringen, ist mein Abschied nicht endgültig. 2004 kehre ich tatsächlich zurück nach Münster, mache mich selbständig, ziehe zu Claudia und schreibe Harald vorher zum Geburtstag eine Karte: ”… Jedenfalls freue ich mich schon darauf, ab Mai wieder öfter mal mit dir ein Bierchen zu trinken oder Gitarre zu spielen oder am besten gleich beides auf einmal.” (Ich weiß das so genau, weil ich inzwischen alle (!) meine Postkarten und Briefe an Harald wieder hier bei mir habe – er hat sie tatsächlich immer alle aufbewahrt.)

3. Strophe – 2004 bis 2017

Ich bin wieder in Münster. Harald leiht sich meinen Kontrabass – als wir ihn aus dem Keller holen, wo er jetzt schon eine Weile eingepackt steht, stellen wir fest, dass er ein bisschen Schimmel angesetzt hat. Harald nimmt ihn trotzdem mit und reinigt ihn, wird aber nicht so richtig warm damit.

2005 heiraten Claudia und ich. Haralds Freund Roland, Meisterfotograf, macht die offiziellen Fotos. Darunter sind einige von Harald, die ich sehr mag. Zum Beispiel dieses:

Ende 2005 wird unser Sohn Jonathan geboren. Meine Band ”Barn Pain”, in der ich seit 1997 Leadguitar gespielt hatte (meinen Gitarrenverstärker hatte ich übrigens Harald abgekauft), löst sich leider auf. Ich habe aber jetzt eine Familie und viel zu tun. Harald lernt inzwischen neue Musiker kennen und schließlich den Schlagzeuger Tim und den Gitarristen Joshy, mit denen es sehr gut läuft.

Harald hat wieder eine Band und spielt Bass. Ich bin etwas neidisch. Irgendwann, als wir uns zum Essen und Bier in einem Restaurant an der Kreuzkirche getroffen haben, sagt er mir: ”Du solltest auch wieder in einer Band spielen. Du bist ein geiler Bassist, das wäre doch sonst schade.” Ich bin zu diesem Zeitpunkt schon so lange bandlos und spiele nur noch so unregelmäßig Gitarre oder Bass, dass ich mich zwar geschmeichelt fühle, aber Harald trotzdem nicht glaube. Doch er schafft es, mit seinen Worten zumindest wieder einen kleinen Musik-Funken in mir zu entfachen, der auch nicht mehr ausgehen wird.

Die Jahre vergehen erstaunlich schnell, 2010 bekommen wir Marlene, vorher hatte ich erfolglos versucht, irgendwo musikalisch Fuß zu fassen und Harald stets davon berichtet. Wir sehen uns ab und zu. Als Marlene in den Kindergarten (und Jonathan in die Schule) kommt, nehme ich mir vor, jetzt wieder ernst mit Musik zu machen. Und das klappt auch. Ich spiele wieder öfter, kümmere mich um meine Instrumente und mache manchmal sogar wieder Aufnahmen.

Harald spielt mit seiner Band ”MyCrowFones” inzwischen oft Konzerte, ich schaue mir das an, zum Beispiel im ”Nippes” und freue mich für ihn. Und wir gehen oft gemeinsam in Konzerte unsere Gitarren- und Bass-Helden, meist im guten alten Hot Jazz Club am Hafen. Wir sehen und hören zum Beispiel Hellmut Hattler. Mike Stern. Al Di Meola. Stuart Hamm. Bei Jeff Berlin muss das Konzert leider wegen Krankheit kurzfristig abgesagt werden – und da wir keine Lust haben, den Ersatzbassisten zu sehen, gehen wir einfach ein Bier trinken. Oder zwei.

Harald plagen diverse gesundheitliche Probleme, mich manchmal auch, aber grundsätzlich geht es uns gut. Im Mai 2016 treffen wir uns nachträglich zu seinem 50. Geburtstag in einem Biergarten an der Promenade und essen und reden. Ich schenke ihm ein Hellmut-Hattler-Signature-Basskabel, über das er sich sehr freut. Unser Gespräch entwickelt sich – wir sind beide im besten Alter dafür – zu einer Art Zwischenfazit. Wo stehen wir im Leben, wie fühlen wir uns dabei, wie geht es weiter? Ich habe inzwischen endlich wieder eine Band, ein großer Glücksfall, und spiele ihm eine Probenraumaufnahme vor, die ihm gut gefällt. Und wir reden übers Leben, das Universum und den ganzen Rest. Harald betrachtet einige Dinge in seinem Leben etwas kritisch – zu kritisch, finde ich –, aber wir gehen an diesem Abend mit einem zufriedenen Gefühl auseinander.

Dieses Gespräch und der Abend sind mir bis heute sehr gut im Gedächtnis. Es gibt nicht viele Menschen, mit denen ich solche Gespräche führen kann. Egal, ob Harald und ich uns zwischendurch ein paar Monate nicht sehen – wir finden immer sofort schnell eine sehr vertraute gemeinsame Ebene.

In den letzen Jahren begegnen wir uns lustigerweise oft rein zufällig. Als Buddhist würde Harald das vielleicht nicht Zufall nennen, ich weiß es nicht. Aber er sitzt mit Joshy vor einer Kneipe, in die Claudia und ich eines Abends im Sommer gehen, um ein Konzert zu besuchen. Er ist mit seiner Nachbarin Viola im Kreuzeck, um eine Band anzuschauen, als dort auch ich spontan auftauche. Als wir einen Familienspaziergang in den Bockholter Bergen machen, kommt uns im Wald plötzlich ein Radfahrer entgegen – Harald. Er erzählt von einem Konzert seiner Band, bei dem er vor Müdigkeit beinahe im Stehen eingeschlafen war.

Und dann, im Januar 2018, als wir eine Familienradtour machen und im Zentrum Nord noch einkaufen gehen, steht Harald natürlich auch plötzlich da. Wir hatten uns schon wieder ein paar Monate nicht gesehen und vereinbaren gleich einen Termin; Harald ist noch im Urlaub. Mitte Januar 2018 gehen wir mittags in der Polizeikantine essen, dann trinken wir Tee bei mir und Harald schaut sich meinen Schraubbass an. Er gefällt ihm. Gut einen Monat späten sprechen wir uns das nächste Mal, am Telefon.

Und damit komme ich zu dem Teil unserer Geschichte, den ich nie schreiben wollte.

CODA

Ich muss zum Schluss doch noch einmal die Tonart ändern – jetzt brauche ich das kleine ”e” wieder. Das Präteritum. Die ”unvollendete Vergangenheit”. Wie passend. Ich kann und will mir die letzten Monate nicht vergegenwärtigen. Sie sollen Vergangenheit sein. Ich brauche den Abstand.

Ich kann und will hier auch nicht die ganzen medizinischen Details darlegen, die zu Haralds im Februar diagnostizierten Krebserkrankung gehörten. Nur so viel: Gestorben ist er dann gar nicht am Gallenblasenkrebs, sondern an einer anderen, unheilbaren Erkrankung der Gallenwege, die wohl den Krebs ausgelöst hatte. Und zu fatalen Problemen mit der Leber führte. So habe ich das jedenfalls verstanden. Oder eben auch nicht – bis heute ist das alles unfassbar für mich.

Ich habe versucht, für Harald da zu sein, ihn möglichst oft zu besuchen. Bei ihm zu Hause, in den verschiedenen Kliniken, in denen er war, und dann in den letzten Wochen auch im Hospiz. Ich brachte ihm Bass-Zeitschriften mit, wir redeten viel, anfangs über den aktuellen Stand der Dinge bei ihm, dann möglichst normal über alles andere. Es gab zwischendurch Phasen der Hoffnung, es gab sehr schlimme Tage und abgesagte Besuchstermine – und es gab diesen einen Tag Ende April, als Harald mir erzählte, was die Ärzte ihm gesagt hatten: Sie konnten ihm nicht mehr helfen. Er würde bald sterben.

Es war sehr bewegend, wie viele Menschen aus Haralds Umfeld in dieser schweren Zeit für ihn da waren und sich um alle möglichen Dinge gekümmert haben. So viele, dass die Besuchstermine lange vorab angemeldet und koordiniert werden mussten – eine Ärztin im Krankenhaus sagte, so etwas habe sie noch nie erlebt.

Für Harald war das eine erstaunlich wichtige Erkenntnis: Dass ihn so viele Menschen so eng und intensiv begleitet haben, hat ihn überrascht. Sein Selbstbild war nie besonders positiv. Das hat sich dann allerdings durch seine Krankheit grundlegend geändert, dazu später mehr. Es ist mir ein kleiner Trost, dass ich vielleicht ein kleines bisschen zu dieser Entwicklung beigetragen habe. Ich habe ihm einen langen Brief geschrieben, nachdem klar war, dass wir nur noch in Wochen rechnen würden und nicht mehr in Monaten, schon gar nicht in Jahren. Darin steht Einiges von dem, was ich auch hier aus unserer Geschichte erzählt habe. Ich wollte mich bei Harald für alles bedanken, so lange das noch möglich war. Er freute sich sehr darüber. Und sagte, dass ihm der Brief sehr viel bedeute. Und dass er sich immer gefreut hat, wenn ich zu Besuch kam – weil er sich dann einfach entspannen konnte. Das hat mich gefreut und in meiner Hilflosigkeit, von der ich im Brief auch geschrieben hatte, etwas getröstet.

FADE OUT – ”Geh nicht fort von mir”

Es gab noch eine andere Sache, die gegen die Hilflosigkeit geholfen hat. Harald hatte einen letzten Wunsch: Ich sollte ihm helfen, ein paar Lieder aufzunehmen, die er noch einmal singen wollte und die dann als CD bei seiner Beisetzung verteilt werden sollten. Er hatte sich vier Chansons von Jacques Brel in den deutschen Fassungen von Klaus Hoffman ausgesucht, die ihm sehr am Herzen lagen: ”Mein Flanderland”, ”Marieke”, ”Geh nicht fort von mir” und ”Adieu, Emile”. Dazu noch die Hermann-van-Veen-Version von Cohens ”Suzanne”.

Ich lieh mir dann mobiles Recording-Equipment (Danke noch mal, Christian), besorgte Instrumental- und Karaoke-Versionen der Lieder und bereitete die Aufnahmen so gut es ging vor. Dass Harald die Lieder auf der Gitarre selbst spielt, war leider nicht mehr drin. Er war schon zu schwach. Und ich kannte die Lieder nicht gut genug, um Harald zu begleiten.

Mitte Mai, da war Harald schon seit über einer Woche im Johannes-Hospiz in Münster, klappte dann zumindest ein Aufnahmetermin. Harald sang in seinem Hospiz-Zimmer ”Mein Flanderland” und ”Marieke”. Und ich war erstaunt, wie viel Kraft, Liebe und Herzblut er noch in seinen Gesang legen konnte. Bei den weiteren Songs passte die Begleitmusik leider nicht so gut – aber Harald war von den zwei Stücken auch schon sehr erschöpft. Es ist dann dabei geblieben. Bei allen weiteren Besuchen hatte er nicht mehr die Kraft, zu singen.

Diana, Haralds Freundin, hatte ihm ein sehr bewegendes Abschiedslied geschrieben, dass Harald sehr schön fand – also waren drei Lieder für die CD verfügbar, die wir dann tatsächlich nach der Beisetzung verteilt und allen anderen per Download-Link zur Verfügung gestellt haben.

Wenn man Harald jetzt auf den Aufnahmen hört, kommt man gar nicht auf die Idee, dass da ein todkranker Mensch singt. Er war ein toller, begnadeter Musiker – was er selber zwar nie so gesehen oder gesagt hätte, aber nur wenige Wochen vor seinem Tod mal eben so vom Hospizbett aus bewiesen hat. Ich bin glücklich darüber, dass ich ihm dabei helfen und so seinen letzten Wunsch zumindest zum Teil erfüllen konnte.

Stille.

Da hängt Haralds schöner Fender Jazz Bass an der Wand, ich kann ihn von hier aus sehen, und dahinter das Bild von Harald, wie er den Bass spielt. Und ich sehe Harald, wie er im Hospizgarten sitzt und mir noch einmal von Weitem zuwinkt, als ich gehe. Ich wusste nicht, dass es mein letzter Besuch bei ihm und mein letztes Gespräch mit ihm sein sollte. Er wahrscheinlich schon.

Nur wenige Tage später sah ich ihn dann zum allerletzten Mal, bei der Trauerfeier im Hospiz am Tag, nachdem er im Schlaf aufgehört hatte zu atmen. Er lag still und friedlich da. Wir nahmen Abschied.

Ein paar Tage später rief mich Diana an und sagte, dass Harald mit ihr noch besprochen hatte, dass ich seinen Bass bekommen soll. Ich holte ihn dann aus Haralds Wohnung ab und hing ihn hier an meine Wand.

Ich habe bis jetzt noch keine einzige Note darauf spielen können.

Das letzte Wort.

Dieser Text sprengt den Rahmen meines Blogs (zu dessen treuen Lesern auch Harald gehörte) in jeder Hinsicht, sowohl inhaltlich als auch vom Umfang her. Und das ist auch gut so. Es ist mein eigener, privater Abschied, den ich aber mit der ganzen Welt teilen möchte – und ich bin froh, dass ich das hier in meinem Blog einfach machen kann. Genau so, wie ich es will – weil ich nicht will, dass nur noch Stille übrig bleibt. Die Welt soll wissen, wen sie mit Harald verloren hat. Oder zumindest eine leise Ahnung davon bekommen.

Und trotzdem bleibt so viel, was noch zu schreiben, zu erzählen wäre. Von der unwahrscheinlichen und unerwarteten Freundschaft, die den westfälischen Maurersohn Harald und den friesischen Lehrersohn Tim verbunden hat. Und deren Tiefe und Bedeutung einem erst doch immer erst ganz am Ende klar wird. Wir hatten in all diesem Unglück das Glück, das noch erkennen und verstehen und darüber reden zu können.

Aber besser, als Harald es in seinem letzten Gruß an die Welt formulierte, der bei seiner Beisetzung verlesen wurde, kann ich das alles nicht zusammenfassen:

”Erst als ich krank war, merkte ich, wie wertvoll mein Leben tatsächlich war. Ich hatte eine Familie, die immer hinter mir stand, ich hatte mir Freunde erworben, auf die ich mich verlassen konnte und die mir in allen Belangen immer geholfen haben. Erst am Ende meines Lebens habe ich erkannt, dass Freunde und Familie schon Lebenssinn genug sind. Ich bin zufrieden gestorben und ich danke euch allen von Herzen!”

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